Seenotartikel aus Bremerhaven retten weltweit Leben (2024)

Der Begriff des „Hidden Champions“ muss zur Beschreibung des Unternehmens Wescom Signals & Rescue Germany GmbH erfunden worden sein: Die Firma ist ein heimlicher Gewinner, Weltmarktführer für pyrotechnische Seenotartikel. Unter den Hauptmarkennamen Comet und Pains Wessex werden weltweit mehr als zwei Drittel aller Seenotraketen, Handfackeln, Rauchdosen und Leinenschussgeräte in Bremerhaven hergestellt. Exportiert wird praktisch in jede Nation der Welt, „wenn man Iran und Nordkorea abzieht“, sagt Vertriebsleiter Holger Mügge.

Der heimliche Champion wird auch geografisch seinem Namen gerecht: Das Firmengelände liegt am Stadtrand, Vieländer Weg, nahe der A 27. Es erstreckt sich über eine Fläche von rund 1,7 Hektar inklusive Teststreifen. Weite Teile sind mit Bäumen bepflanzt, künstliche Wälle durchschneiden es. Verschlungene Wege führen zur Fertigung, zum Lager, zur Verwaltung. Mitarbeiter sind mit Fahrrädern unterwegs.

Gebäude mit Ausblasewänden

Nicht landschaftsarchitektonische Erwägungen, sondern Sicherheitsabstände trennen die Gebäude. Die meisten sind einstöckig und von überschaubarer Größe. Einige von ihnen bestehen nur aus drei gemauerten Wänden, erläutert Produktionsleiter John Michaelis. Bei der vierten handele es sich um eine sogenannte Ausblasewand, die für eine „gerichtete Druckentlastung“ sorgt. Der mögliche Schaden bei einem möglichen Unglück werde damit so weit wie möglich begrenzt.

Einer der Wege mündet auf ein gepflastertes Rondell. Zwei Mitarbeiter in Schutzkleidung erproben dort gerade Handfackeln. Eine mit Wasser gefüllte Metalltonne steht bereit, um die Fackeln unter Wasser zu testen. Mit wenigen Griffen beginnt die Handfackel für eine Minute mit 15.000 Candela (Licht von 15.000 Kerzen) zu leuchten und damit bestenfalls Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Die Sicherheitsvorkehrungen und -auflagen sind je nach „pyrotechnischer Gefährdungsklasse“ hoch, beispielsweise dürfen nur qualifizierte Speditionen Seenortartikel transportieren, die zum Teil aus Schwarzpulver oder Schießbaumwolle (Nitrozellulose) bestehen. Die Qualitätskontrolle ist aufwendig und engmaschig, beispielsweise werden Treibsätze nicht stichprobenartig, sondern vollständig geröntgt und auf Risse oder Luftblasen überprüft. Auf die Produkte der Firma müssen sich Menschen in Not vollends verlassen können.

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Produktionsleiter John Michaelis (links) und Vertriebsleiter Holger Mügge vor der Maschine, die Fallschirmsignalraketen herstellt.

Foto: Jörg Sarbach

Die Bremerhavener beliefern vor allem Kunden in der Berufsschifffahrt, auch Wassersportfahrzeuge und Jachten müssen mit Seenotsignalen ausgerüstet sein. Die großen Kreuzfahrtschiffe beispielsweise, die heute unterwegs seien, müssten gewisse Evakuierungskapazitäten einhalten, erläutert Holger Mügge. Dazu zähle eine bestimmte Anzahl von Rettungsinseln, die mit Rettungsmitteln wie Signalmunition ausgestattet sein müssen, um im Notfall Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Wanderer und Skifahrer sorgen ebenfalls sicherheitshalber mit Produkten von Wescom Signals & Rescue Germany vor. „Wir sind auch schon gebeten worden, etwas zum Schutz gegen Eisbären zu entwickeln“, berichtet Geschäftsführer Jan-Dirk Hellwege. „Das ist im Moment ein großes Thema.“ Bodenleuchtkörper wie sie fürs Militär produziert werden (siehe Artikel unten), seien dafür geeignet. „Doch derzeit ist man nicht gewillt, diese Technologie zivilen Nutzern zur Verfügung zu stellen“, so Hellwege.

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Jan-Dirk Hellwege.

Foto: Helmut Stapel

Die Geschichte der Firma ist wechselvoll. Seine Wurzeln reichen laut Mügge bis in die Mitte des 19. Jahrhundert. Zunächst wurden Kanonen mit Treibladungen für den Walfang hergestellt. 1920 übernahm der Bremerhavener Friedrich-Wilhelm Sander das Geschäft, von Beruf pyrotechnischer Ingenieur. In die Geschichtsbücher ging er ein, als er mit Fritz von Opel und Max Valier Autos mit Raketenantrieb baute, die sogenannten Rakwagen.

Vor allem befriedigte die Firma jedoch einen Bedarf, der durch den Untergang der Titanic 1912 enorm gewachsen war: Sie begann, pyrotechnische Notsignale zu entwickeln und herzustellen. 1930 baute Sander eine neue Fabrik dort, wo das Unternehmen bis heute residiert. „In den dunklen Jahren“, so Mügge weiter, wurde am Vieländer Weg Kriegsgerät hergestellt, auch von Zwangsarbeitern. Sander wurde enteignet. Er starb 1938. Den Krieg überstanden die Firmengebäude unbeschadet.

Von 1955 an wechselte das Unternehmen mehrfach den Besitzer. Von drei Sparten bleiben die der pyrotechnischen Seenotartikel sowie militärische Pyrotechnik. Die Sparte Kleinfeuerwerk wurde 2004 aufgegeben. 2005 wurde das Unternehmen von seinem größten englischen Wettbewerber übernommen. Von 2012 an gehörte der Betrieb zur US-amerikanischen „Drew Marine“, die Chemikalien für die Schifffahrt produziert, inzwischen direkt zur Kapitalbeteiligungsgesellschaft The Gordon Company. Mügge sagt: „Wir haben ein paar Namenswechsel hinter uns, aber wir machen immer noch das Gleiche.“

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150 Beschäftigte

Anders als vielfach befürchtet, hätten die Amerikaner den Standort Bremerhaven nicht geschwächt, sondern gestärkt. „Wir haben davon nur profitiert“, sagt Mügge. Investiert worden sei in die Automatisierung, „wir konnten weiter wachsen und unsere Position behaupten“. Das Unternehmen bilanziert heute 150 Beschäftigte wie Chemiker, Elektriker, Schlosser, Mechatroniker sowie angelernte Produktionsmitarbeiter. „Unser Geschäft wächst“, sagt der Vertriebsleiter. Bei größeren Behördenaufträgen zum Beispiel wird die Zahl der Mitarbeiter vorübergehend aufgestockt.

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Licht-Rauch-Signale werden in Handarbeit montiert.

Foto: Helmut Stapel

Pro Jahr werden in Bremerhaven laut Mügge rund 1,2 Millionen Handfackeln und an die 900.000 Fallschirmsignalraketen angefertigt. Diese Massenprodukte werden überwiegend von Maschinen hergestellt, Sonderanfertigungen des Bremer Werks für Maschinenbau. „Unsere Produkte müssen zuverlässig funktionieren, auch unter übelsten Umständen, und wir wollen unter möglichst sicheren Bedingungen fertigen.“ Bei anderen Artikeln, so bei Licht-Rauch-Signalen für Rettungsringe oder Leinenwurfgeräten, sind Arbeitsschritte von Hand erforderlich.

Ein Bekenntnis zum Produktionsstandort Bremerhaven fällt den Verantwortlichen leicht. „Hier gibt es Know-how seit 100 Jahren.“ Ein Bekenntnis zum Unternehmen fällt offenbar noch leichter: Es mache schon stolz, für einen Weltmarktführer zu arbeiten, dessen Produkte dazu da seien, Menschenleben zu retten, sagt Holger Mügge.

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